Meinung ESC 2024
Warum dieser israelische Song nicht ausgeschlossen werden darf
| Lesedauer: 3 Minuten
Von Michael Pilz
Redakteur Feuilleton
Die europäische Union des öffentlich-rechtlichen Rundfunks droht, Israel vom Eurovision Song Contest in Malmö auszuladen. „October Rain“ von Eden Golan sei zu politisch. Das Argument dafür ist absurd.
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Es ist nur ein Lied über den Regen im Oktober: Ein lyrisches Wir tanzt durch den Sturm, es lässt die Welt zurück und leidet unter Atemnot. Die Zeit rast wie im Flug. Weil jemand in der Nacht den Mond gestohlen haben muss, ist alles nur noch schwarz und weiß. „October Rain“, der Beitrag Israels zum Eurovision Song Contest im Mai in Malmö, könnte ein Protestsong gegen alles sein. Oder ein Klagelied über die Zustände.
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Oder, so fürchtet es die EBU, die europäische Union der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ein Requiem für die Opfer des Hamas-Massakers am 7. Oktober, am jüdischen Feiertag des Simchat Tora, während eines Psytrance-Raves: Der ESC sei eine unpolitische Veranstaltung. Nach wiederholten Forderungen, Israel wegen des Gaza-Kriegs vom Schlagerwettstreit auszuschließen, werde nun erwogen, Eden Golan mit „October Rain“ nicht teilnehmen zu lassen. Woraufhin der Sender Kan in Israel, der das Lied für den ESC in Malmö auserkoren hat, erklärt, bevor es dazu komme, werde er „October Rain“ zurückziehen.
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Der israelische Kulturminister Miki Zohar hält die Vorwürfe der EBU für skandalös. Er sagt, das Lied drücke lediglich „die Gefühle seines Volkes und des Landes aus in diesen Tagen“ und sei „keineswegs politisch“. Diplomatisch versucht er zu retten, was nicht mehr zu retten ist, wenn er die Ausrichter in ihrer Argumentation bestätigt. Der Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie ihn die Gründerväter 1956 nannten, war nie unpolitisch. Nicht zuletzt die deutschen Teilnehmer bekommen das jährlich zu spüren, wenn sie sich als ungeliebte Botschafter des europäischen Gedanken, mit einem hinteren Platz begnügen müssen, weil ihnen osteuropäische Allianzen keine Punkten gönnen. Immer wieder sind einzelne Länder aus Protest dem Wettsingen entweder ferngeblieben oder ausgeschlossen worden. Auch in diesem Jahr ist Russland nicht dabei.
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Vor allem aber: Lieder sind nun einmal Lieder. Man kann jedes Lied politisch hören, man kann aber auch jedes politische Lied unpolitisch hören. Solche Lieder gab es reichlich in der 68-jährigen Historie des ESC. Als Sandy Shaw für Großbritannien 1967 „Puppet on a String“ sang, über die Ohnmacht des modernen Menschen, als Abba für Schweden 1974 „Waterloo“ über den Krieg der Liebe vortrugen, als 1982 Deutschland mit „Ein bisschen Frieden“ von Nicole gewann, als sich Conchita Wurst 2014 mit „Rise Like a Phoenix“ mit sämtlichen Minderheiten solidarisierte, als 2016 Jamala die Ukraine mit der Hymne „1944“ über die sowjetrussischen Kriegsverbrechen auf der Krim vertrat und als das ukrainische Kalush Orchestra vor zwei Jahren mit „Stefania“ siegte, weil sich ganz Europa auch im Schlager solidarisch zeigen wollte.
Eden Golan, die „October Rain“ in Malmö singen möchte, heißt tatsächlich Eden Golan. Ihre Eltern stammen aus dem Baltikum und aus der Ukraine, nach Golans Geburt in Israel wanderten sie nach Russland aus. In Moskau wurde Golan groß. 2015 wollte sie zum ESC, für Russland, vor zwei Jahren kehrte sie nach Israel zurück. Wie könnte ein Lied wie „October Rain“ von Eden Golan nicht politisch sein? Es passt perfekt zum Eurovision Song Contest in seiner Dialektik, wenn es heißt, alles sei nur noch schwarz und weiß.